Das alte Leben kommt nicht mehr zurück!

Der Krieg in der Ukraine ist längst nicht mehr oberste Schlagzeile, Deutschland müht sich an anderen Problemen ab. Doch wie geht es unseren ukrainischen Schüler:innen? Wie erlebt unsere ukrainische Deutschlehrkraft Viktoriia Mariniuk das Leben hier und den Kontakt in die Heimat nach Odessa?

Dazu hat unser Lehrer Christian Karl mit Viktoriia ein Interview geführt. Im Vorfeld wurde ihm mal wieder bewusst, in welch unterschiedlichen Welten wir uns bewegen. „Wir können uns früher treffen als geplant“, sagt Viktoriia im Vorbeigehen auf dem Schulgang.

„In Odessa ist gerade Fliegeralarm und der Online-Unterricht mit meiner alten Schulklasse fällt deshalb aus.“

INTERVIEW VON CHRISTIAN KARL

Christian Karl: Fliegeralarm statt Unterricht – wie müssen wir uns das vorstellen?

Viktoriia Mariniuk: Das passiert immer wieder, die Menschen gehen in den Luftschutzkeller, das dauert dann mehrere Stunden. In der Ukraine hat man deshalb angefangen, manche Klassenzimmer in Schutzkeller zu verlegen. Dann kann der Unterricht auch während eines Fliegeralarms weitergehen.

Wie gut, dass deine ukrainischen Schüler:innen hier am LTG mehr Normalität erleben.

Das ist natürlich viel besser. Aber sie sind ständig gestresst, weil sie mit den Gedanken woanders sind. Ich bin nicht nur als Lehrkraft gefragt, sondern auch als Psychologin und frage immer wieder nach, wie es um Verwandte und Freunde, die in der Ukraine geblieben sind, steht. Das ist bei jedem Kind anders, sie kommen aus verschiedensten Ecken der Ukraine, so dass die Bedrohungslage unterschiedlich ist. Aber ich sage immer wieder den ukrainischen Kindern am LTG, dass sie Glückspilze sind, denn nicht alle Eltern konnten mit ihren Kindern fliehen. Und sie haben jetzt den Jackpot bekommen in Deutschland zu leben und sich am LTG am Unterricht beteiligen zu dürfen. Wir müssen für diese Möglichkeit dankbar sein und uns Mühe geben, um etwas erreichen zu können.

Trotzdem bleibt von einem unbeschwerten Großwerden nicht viel übrig, oder?

Die Kinder haben keine Kindheit. Sie mussten so schnell erwachsen werden – wenn Raketen fallen, hört die Kindheit auf. Viele müssen auch mehr Verantwortung für Geschwister übernehmen, da die Mütter meist alleine mit den Kindern geflohen sind.

Wie sehr belastet dich das emotional?

Es nimmt mich schon sehr mit. Ich selber schaue auch permanent in den Social Media Kanälen nach, wie gerade die Lage ist. Wenn es Luftangriffe gibt, erfährt man das darüber sehr schnell. Und wenn es Odessa oder Ternobil betrifft habe ich natürlich Angst um meine Tochter und die Eltern.

Deine Tochter studiert Medizin in der Westukraine in Ternopil.

Sie wollte in der Ukraine bleiben, was ich als Mutter nur schwer ertragen kann, aber nicht beeinflussen kann; das ist ihre Wahl. Am Jahresanfang gab es Online-Vorlesungen, da war sie hier in Prien. Aber jetzt findet die Uni wieder in Präsenz statt und sie will ihrem Heimatland vor Ort helfen. Am Wochenende versorgt sie verletzte Soldaten, die nach Erstbehandlung im Kampfgebiet ins Landesinnere verlegt werden. Zuletzt kamen an einem Samstag 98 Verletzte in Ternopil an.

Die Unterstützung für die Soldaten ist groß.

Das stimmt. Teilweise müssen die Frauen ihren Männern Schutzausrüstung schicken, die oft von schlechter Qualität sind. Außerdem fehlt es überall an Waffen. Unsere Soldaten brauchen eine Chance, diesen Horror zu stoppen. Ohne Waffen geht das nicht.

Dem Mann deiner Cousine hätte eine bessere Ausstattung vielleicht das Leben gerettet.

Er starb letztes Jahr am 19. August in Cherson an einer Bauchverletzung. Mit einer guten Schutzweste hätte er möglicherweise überlebt.

Deine Cousine muss sich jetzt als Witwe irgendwie durchschlagen.

Sie lebt in Vysoke, das ist ein kleines Dorf auf dem Land in der Nähe von Winnytsia im Zentrum der Ukraine. Als Erzieherin im Kindergarten erhält sie nur einen Mindestlohn mit dem sie kaum ihre drei Jungen (7, 9 und 17 Jahre; Anm. der Red.) ernähren kann. Zum Glück hat sie einen Gemüsegarten mit Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln und anderem. Der älteste Sohn ist auf der Militärschule, er will an die Front.

„Die Stromausfälle schlagen sehr auf die Psyche.“

Das Kollegium des LTG hat Geld für drei Stromgeneratoren gesammelt. Einer steht nun bei deiner Cousine.

Dafür sind wir wahnsinnig dankbar, dass unsere Verwandten Unterstützung bekommen haben. Vielen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen! Der Generator hilft meiner Cousine sehr. In der Nähe ihres Dorfes gibt es Elektrizitätswerke, die immer wieder bombardiert werden. Der Strom fällt häufig aus, Familien ohne Generatoren sitzen abends im Dunkeln. Vieles was ablenkt, malen, lesen, Filme schauen fällt weg. Die Menschen gehen deshalb sehr früh ins Bett, wachen nachts auf, grübeln, werden depressiv. Die Stromausfälle schlagen sehr auf die Psyche.

Der zweite Generator ging an Jaruslav, einen Neffen deines Ehemanns.

Die Familie hat im November ihr drittes Kind bekommen, das Baby hat zwei Brüder mit 5 und 7 Jahren. Obwohl sie einen Holzofen gebaut haben, gehen tägliche Arbeiten wie Babybrei kochen mit Strom deutlich leichter. Jaruslav hat in einer Mehlmühle gearbeitet. Sie ist geschlossen, weil der Arbeitgeber nicht die Verantwortung dafür übernehmen wollte, dass seine Arbeiter unter Raketenbeschuss geraten. Jaruslavs Familie hat deshalb aktuell keinerlei Einnahmen.

Den dritten Generator hast du zu deinen Eltern nach Odessa liefern lassen.

Ich würde meine Eltern sofort nach Deutschland holen. Aber mein Vater ist dement, in einer fremden Umgebung wäre er völlig verloren. Wenn Fliegeralarm ist, habe ich immer Angst um sie. Das Mietshaus hat keinen Schutzkeller und der nächstgelegene ist so weit entfernt, dass der Weg dorthin zu riskant ist. So harren meine Eltern während des Alarms immer in der Wohnung aus. Stabilen Strom zu haben hilft ihnen sehr.

Wann hast du deine Eltern zuletzt gesehen?

Ich konnte im Januar mit einem sehr günstigen Ticket von Memmingen aus nach Chisinau (Hauptstadt der Republik Moldau, Anm. d. Red.) fliegen. Von dort sind es 200 km nach Odessa, das hat nochmal einen halben Tag gedauert. An der Grenze haben wir vier Stunden gewartet und der Bus konnte nur sehr langsam fahren. Wir mussten ständig den Lastern im Gegenverkehr Platz machen, da die schmale und kurvige Straße Teil des Weizenkorridors ist. Ich habe es gerade noch vor der Sperrstunde nach Hause geschafft. Die Stadt war stockfinster und ich habe nicht daran gedacht, für den Weg vom Busbahnhof zu meinen Eltern eine Taschenlampe mitzunehmen. Mit dem Handylicht ging es einigermaßen, ich habe Odessa so noch nie erlebt – es war beklemmend.

Und dann standest du plötzlich bei deinen Eltern vor der Tür.

Ich hatte ihnen vorher nichts gesagt, sie hätten sich sonst nur Sorgen gemacht. Ich habe von der Straße aus bei ihnen angerufen und gesagt, dass sie gleich ein Paket erhalten – die Freude war natürlich riesengroß.

Die Sache mit dem Paket klang auch plausibel.

Ja, ich lasse ihnen alle zwei Wochen Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln oder Mehl liefern, oder auch mal Kleidung – alles aus den Online-Supermärkten in Odessa. Die Renten in der Ukraine sind winzig, mein Vater erhält als ehemaliger Handwerker eine Minimalrente von 60 Euro. Dabei betragen alleine die Nebenkosten der Wohnung 280 Euro. Aus diesem Grund sind auch viele Mütter mit ihren Kindern nach dem Winter wieder in die Ukraine zurückgekehrt. Die Familien bleiben zusammen, weil die Alten sonst nicht über die Runden kämen.

Hast du als Lehrkraft in der Ukraine genug verdient, um deine Eltern mit unterstützen zu können?

Am Gymnasium habe ich über die Vollzeit hinaus mit zusätzlichen Stunden unterrichtet, das wurde insgesamt mit etwa 400 Euro entlohnt. Es ist normal, dass die Menschen dazuverdienen müssen, vom Lehramt allein jedenfalls kann man nicht leben. Bei mir waren es dann noch abends und am Samstag weitere Nachhilfestunden, die ich gegeben habe. Mein Mann hat als Manager im Logistikbereich zwar auch verdient, aber man muss hart arbeiten, wenn man die Eltern mitversorgen und den eigenen Kindern etwas bieten will, beispielsweise die Möglichkeit, zu studieren.

„Ich versuche jeden Nachmittag meine alte Klasse via Online-Unterricht so gut es geht zusammen zu halten.“

Ein Teil deiner Schulklasse ist in der Ukraine geblieben.

Meine Klasse 7a am Gymnasium Nummer 1 in Odessa hatte vor dem Krieg 29 Schülerinnen und Schüler. 13 von ihnen sind nun über halb Europa verteilt. Wer geblieben ist, hat in der Regel Eltern, die wegen den Großeltern nicht weg wollen oder die nicht weg dürfen, beispielsweise weil sie Ärzte sind. Ich versuche jeden Nachmittag meine alte Klasse via Online-Unterricht so gut es geht zusammen zu halten. Ehrlicherweise ist aber gerade für die Kinder in Odessa wegen der ständigen Stromausfälle ein vernünftiger Online-Unterricht kaum möglich.

Trotzdem sollen alle Schüler:innen der 9. und 10. Jahrgangsstufe einen ukrainischen Abschluss machen – im Präsenzunterricht oder online.

Dazu gibt es auch viele Lernplattformen. Für die geflüchteten Kinder ist das oft ein Spagat. Sie sind hier vormittags in den Brückenklassen, nachmittags im ukrainischen Online-Unterricht und sitzen abends an den Hausaufgaben. Manche Eltern sagen, dass es zu viel ist und ich weiß selbeat nicht, was der beste Weg wäre. Vernünftig Deutsch lernen ist jedenfalls die Grundlage, alles hängt von der Sprache ab.

„Ich sage immer: Im Schüler kann man das Gesicht des Lehrers erkennen.“

Einige von deinen Schülern hast du bei deinem Besuch in Odessa getroffen.

Sie haben sich sehr über die Süßigkeiten gefreut, die ich im Gepäck hatte. Das war ziemlich emotional für mich. In der Ukraine ist die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern sehr eng und stark auf Gefühle gebaut – ich vermisse meine Schüler sehr. Ich sage immer: Im Schüler kann man das Gesicht des Lehrers erkennen.

Du hast noch mehr Kontakte in die Ukraine.

Da gibt es viele Verbindungen zu ehemaligen Schülern und auch zu Lehrkräften am Goetheinstitut. Eine der Deutschkolleginnen dort stammt aus Mariupol. Als Mariupol von den Russen eingekesselt worden ist, hat sie mit ihrer Familie zwei Wochen in einem Keller gelebt, sie mussten Schnee schmelzen, um Wasser zu haben. Am Ende hat sie es irgendwie geschafft, mit ihrer Tochter zu fliehen. Ihr Mann ist mit den Eltern dortgeblieben, ich weiß nicht, ob sie noch leben.

Über das Goethe-Institut hast du schon früher Kontakt mit Deutschland gehabt.

Ich war 2014 mit dem Institut in Deutschland, zuvor schon einmal privat in Berlin. Damals waren wir Gäste, nun erlebe ich Deutschland von innen. Wenn meine Tochter und meine Eltern hier wären, könnte ich mich vielleicht heimisch fühlen. So aber fällt das Fußfassen sehr schwer.

Bei uns am LTG dreht sich im Moment fast alles um die Abiturprüfung und die Abschlussfeier.

In der Ukraine haben wir auch die Schulabschlussfeier gebührend begannen. Es gab einstudierte Tänze und die Absolventinnen trugen tolle selbstgenähte Ballkleider. Ich vermisse das so sehr – und mit der Seele bin ich sowieso dort.  

Update:

Am 02.05. hat Viktoriias Gymnasium für die 5. und 6. Klassen wieder mit dem Präsenzunterricht begonnen, da für diese Unterrichtsräume im Schutzkeller hergerichtet wurden. Es ist ein Schritt hin zu einer Normalität, wenn auch ein kleiner: nur ein Drittel der Schüler ist in Odessa geblieben und kann ins Schulgebäude kommen. Der Rest wird nach wie vor online dazu geschaltet.

Text: Christian Karl

Bilder: Dominik von Maffei